FRONT ROW

von Antonio Lilliu

Sex-à-porter: der Code der VERFÜHRUNG in dem Dessous.

Sex-à-porter: der Code der VERFÜHRUNG.

Vom 9 bis 11 Juli dieses Jahres präsentierte Lyon über 400 Marken auf dem Salon de la Lingerie, MODE CITY. Die Entscheidung, die Sommer-Messe in die historische Hauptstadt der französischen Textilindustrie zu verlegen, beruhte auf den Wunsch, eventuelle Unannehmlichkeiten für die Besucher aufgrund der Fußball-Europameisterschaft in Paris zu vermeiden.

Messen sind für Fachleute wie Weihnachten für Kinder: in der Tat markieren sie die Zeit durch einen Meilenstein, mit dem wir die Zeit vorher und nachher mit unterschiedlicher Haltung vermessen. Natürlich, was für uns heute selbstverständlich erscheint, ist eine logische Empfindung der Zeit als Ergebnis der griechisch-römischen Kultur von Aristoteles an. In anderen Regionen unseres Planeten, wie Indien oder dem Fern-Osten hat es sich eine andere Zeitkultur entwickelt, die nicht zufällig vom Kreis, die Figur ohne Anfang und ohne Ende, und vom Rad, das Mantra der ewigen Wiederkehr, symbolisiert wird.

Genau die Zeit ist das erste, was mir in den Sinn kommt bei jedem Messe-Besuch: auf pragmatische Weise, z.B. in Bezug auf verlorene Zeit, wenn am Ende ein Gefühl von Déjà-vu bei mir entsteht; in Bezug auf die Logik von Ausstellungskalender und Standorten (der Veranstalter der Mode City meldete enttäuschende Ergebnisse über Besucheranzahl sowie Umsätze, als ob der Umzug von Paris nach Lyon anderes zu hoffen ließ); schließlich, beim Anschauen der neuen Kollektionen, frage ich mich über die Fähigkeit der Produkten, den wandelnde Zeitgeist zu reflektieren.

"Express & Indulge" sind die zwei Dessous Trends, welche die Messe in Lyon als absolute Neuigkeit für den Sommer 2017 präsentierte. Obwohl Trend-Forscher normalerweise meine größte Sympathie verdienen, kann ich mich in diesem Fall nicht ohne weiteres überzeugen, soweit es um das Thema "Verführung" geht. Natürlich können Messen-Veranstalter und Trend-Scouter kaum mehr tun, als zu fördern, was der Markt auftischt.

Es ist eindeutig, dass viele Marken eine neurotisch- schizophrenen Beziehung mit der Zeit pflegen, die sie oft führt, den Zeitgeist nicht zu erkennen.

Krisen sind viel mehr eine Chance als dramatische Ereignisse, obwohl sie dramatische Züge bekommen können, wenn sie verdrängt werden. Identitätskrise verraten sich oft bei vielen Unternehmen in einer Besessenheit um die technischen Merkmale des Produkts auf Kosten des Marketings. Diese Besessenheit offenbart sich, auf der einen Seite, in einer monomanischen Ästhetik, die das gleiche Produkt Saison nach Saison bis zur Langeweile dekliniert; Auf der anderen Seite, bei der Verwendung von USP-Konzepten die so banal klingeln, die man letztendlich tausende andere Marken und Produkte zuschreiben könnte. Auf diese Weise werden die gleiche Vorteile, die die Einzigartigkeit einer Marke zum Ausdruck bringen sollten, ihre Anonymität untermauern. Konzepte wie außergewöhnlicher Fitting, feminine Spitze, Liebe zum Detail, exklusive Materialien, kompromisslose Qualität, Weiblichkeit, einzigartiger Komfort, und so weit sind ein Beispiel dafür.  Als ob die Kundin eine Schülerin wäre, die durch einen Produkt-Unterricht belehrt werden soll. 

Solche Banalitäten haben nichts mit Marketing-Kommunikation zu tun; höchstens finden solche Themen im Bereich Retail-Training ihre Berechtigung. Echte Marketing-Profis sind in der Lage, das Reason-Why einer Marke in einem kurzen und aussagekräftigen Slogan zu synthetisieren: die Prämisse dieser prägnanten Kommunikation wurde einst in einer sprichwörtlichen Wahrheit von Helena Rubinstein exemplifiziert, die sagte: "wenn eine Frau mein Lippenstift kauft, kauft sie sich in wesentlichem den Traum, sich selbst zu werden".

Es ist nicht zu leugnen, dass selbst die Etymologie des Wortes Verführung einen negativen Wert enthält: sowohl das lateinisches Wort "seducere" als auch das deutsche “Verführen“ unterstreichen die Bedeutung von "irreführen", wobei alle deutschen Wörter mit dem Präfix "ver-" eine negative Bedeutung enthalten (z.B. ver-sagen, scheitern; ver-irren, versteigen; ver-urteilen, bestrafen, etc). Eine Person durch gezielten Handlungen, jedoch gewaltlos, zu vereinnahmen, um sie für die eigene sexuellen (oder anderer Art) Absichten zu gewinnen, ist die Bedeutung von Verführung sowohl in der Psychologie als auch in der Soziologie und in dem Recht.

Übersetzt in die Dessous-Sprache, ist Verführung darauf fokussiert, die weibliche Sex-Appeal durch den geschickten Einsatz von transparenten Stoffen, Spitze, Guepierre, Büsten, Balconett, Push-up, Tanga, Strapse und Strümpfe zu maximieren. So ist die Dessous-Industrie stets bemüht, ein gewaltiges Arsenal den Frauen zu Verfügung zu stellen, als ob sie einen Atomkrieg nicht nur gegen einen bestimmten Mann führen würden, sondern den atavistischen Krieg gegen DEN MANN überhaupt, das männliche Prinzip schlechthin von Adam bis Stalin.

Betrachtet man viele Dessous-Neuigkeiten für die nächste Saison, würde man meinen, dass die moderne Frau beim Kauf ihrer Unterwäsche ein Geschmack irgendwo zwischen Madame Pompadour und Mae West an den Tag legt. Verhalten-Psychologie hat auch über Kaufverhalten viel zu sagen: abgesehen von der eigenen Erfahrung besitzt die moderne Frau einen genetischen Code, wo die Erfahrungen ihrer Vorfahrerinnen und, in erster Linie von ihrer Mutter gespeichert. So erlebte die Mutter der modernen Frau die Ära der sexuellen Befreiung, sie  empörte die alte Generationen beim Lesen von "Deep Throat" und Anais Nin Werke, hysterisch schrie sie auf die Rolling Stones Musik, sie zog an schwindelerregende kurze Röcke bei Kudgebungen gegen das Establishment, den BH als Symbol der Frauen-Unterdrückung brannte sie auf der Straße, bevor sie nach Ibiza umzog, um am Strand unten dem Mondlicht wild zu feiern.

Nur ein Trauma könnte nun den Zwang zur Manipulation der Männer seitens ihrer Tochter erklären: Nur eine tiefe narzisstische Kränkung könnte ein solches regressiven Verhalten deuten.

Tatsache ist, während Frauen sich entwickelt haben, sind Männer einen ähnlichen Reifungsprozess gegangen. Wie würde heute bei einem Mann eine solche Frau ankommen, die zu Hause im transparenten Höschen theatralisch herumspaziert, die den Strumpfhalter vor Schlafengehen anzieht, die die Schwerkraft mit den Trägern des Push-ups herausfordert wie bei einer Peep-Show... Wäre er bereit seinen Kopf zu verlieren? Wie bei einem Burlesque Show aus der 50er Jahre! Wird er überwältigt sein, oder vielleicht doch amüsiert? Wenn er Sinn für Humor hat, wahrscheinlich amüsiert.

Verführung ist ein Spiel mit bedeckten Karten, weil es einen Trick braucht, um sein Ziel zu erreichen. Darüber hinaus ist es ein gefährliches Spiel, weil die Verführerin gezwungen ist, die Gefahr von schweren Demütigung, falls entdeckt, in Kauf zu nehmen. Es ist vor allem ein Spiel nur selten von einem Happy End gekrönt: die Verführung der Eva verursachte den Verlust des paradiesischen Gnadenzustands für die Menschheit; die Verführung von Paris (es gibt noch keine Gewissheit darüber, wer verführte wen, Helen oder Paris?) führte zur dramatischen Zerstörung von Troja; die Beziehung zu Willy Simpson kostete Edward VII von England den Thron; die Bibel der Verführung der Französisch Literatur "Gefährliche Freundschaften" von Choderlos de Laclos hat ein mehr als tragisches Ende, usw. Letztlich Verführung hat nichts mit Liebe zu tun, die sich auf Intimität und Respekt beruht. Verführung ist ein Macht-Spiel und stellt daher den Gegenpol des Charmes. Verführung ist heute ein veraltetes Wort, das wie eine Beleidigung bei der modernen Frau ankommen soll.

Bevor man die Unique-Selling-Proposition einer Marke auf Verführung fokussiert, ist es daher angebracht, zu hinterfragen: 1) ob Verführung das höchste Streben der modernen Frau darstellt, sowie ob die noch ein gangbarer Weg zur Selbstbehauptung zeigt; 2) wie beurteilt die Kultur der jeweiligen Gesellschaft ein solches Verhalten? Selbst Marken sind heute dazu aufgerufen, auf verführerische Marketing-Maßnahmen zu verzichten, um eine authentische Beziehung mit der Kundschaft zu etablieren.

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